Die Gedenkstele im Dom zu Wetzlar ist der Erinnerung an die Verstorbenen gewidmet.
Warum gibt es eine solche Form des Gedenkens an diesem Ort? Dazu möchten wir Ihnen einige Gedanken mitgeben.

In unserer Gesellschaft hat sich ein großer Wandel vollzogen; wir sind auf vielen Gebieten freier und individualistischer geworden. In gleichem Maß hat die Bedeutung von Bräuchen und Konventionen abgenommen. Damit hat sich auch unser Umgang mit dem Tod und unsere Trauerkultur verändert. Immer häufiger liest man in Traueranzeigen den Satz: „Anschließend gehen wir in aller Stille auseinander“. Von wenigen sehr bekannten Persönlichkeiten abgesehen, sind Tod und Beerdigung kein öffentliches Ereignis mehr. Die Mehrzahl der Menschen stirbt nicht mehr zu Hause, sondern im Krankenhaus oder Pflegeheim. Beerdigungen finden im kleinsten Kreis und zunehmend außerhalb der Friedhöfe statt. Die alten Riten zwischen Tod und Begräbnis, in die Familie und Nachbarn einbezogen waren, sind verlorengegangen. Mehr und mehr verstecken und anonymisieren wir den Tod und erklären ihn zur reinen Privatangelegenheit.

Das ist eine Entwicklung, die uns zum Nachdenken bewegen sollte. Wenn wir uns dem Tod nur noch im Privaten stellen wollen, dann vernachlässigen wir, dass wir in besonderer Weise soziale Wesen sind. Die Auseinandersetzung mit dem Tod, der wohl größten Zu-mutung des Lebens, soll uns nicht nur als Individuen berühren, sondern auch als Gemeinschaft. Deshalb ist es gut, wenn sich gerade in einer Kirche, die wir als Christen immer wieder aufsuchen, um unsere Gemeinschaft mit Gott und untereinander zu feiern, ein Ort befindet, an dem die Verstorbenen als Teil dieser Gemeinschaft sichtbar bleiben.

Vielleicht fallen Ihnen zuerst die einzelnen Kreuze auf, die den Namen einer/eines Verstorbenen tragen. Es sind Menschen beider Kirchengemeinden, derer auf diese Weise unabhängig ihrer konfessionellen Zugehörigkeit gedacht wird, noch einmal besonders in einer gemeinsamen Feier am Ende des Kirchenjahres. Im Anschluss an diese Feier können die Trauernden das Kreuz ihrer / ihres verstorbenen Angehörigen mit nach Hause nehmen, damit es in seiner Symbolik ihr Begleiter auf dem Weg der Trauer werden kann. Das dann nicht mehr notwendige Namenstäfelchen gibt eine Leer-stelle frei, die für die Lücke steht, die der Tod gerissen hat. In einem sehr persönlichen Prozess wird sich irgendwann diese Lücke zwischen den drei Würfeln mit einem vierten beweglichen Würfel wieder schließen können.

Die Stele selbst ist zusammengefügt aus vier siebeneckigen Säulen. Sie verbinden sich zu einer harmonischen Einheit durch die Kreuze, die in ihrer Anordnung spiralförmig aufsteigen. Die stark gefaltete, fast zerklüftete Grundstruktur als Sinnbild für die Verschlungenheit des Lebenswegs erhält eine darüber liegende, auf den ersten Blick nicht erkennbare, unbeirrt himmelwärts strebende Linie. Die Brüche und Ungereimtheiten eines Lebens durch-zieht ein die Menschen verbindendes Band als Ausdruck unserer Sehnsucht nach Einheit und Verbundenheit in Zeit und Ewigkeit.

Der Gedanke der Einheit darf in dieser Kirche besonders deutlich werden. Ist doch der Wetzlarer Dom eine der ältesten Simultankirchen; seit vielen Generationen ist er für Gläubige evangelischer und katholischer Konfession gleichermaßen ein Gotteshaus. Hier in diesen beiden Gemeinden fühlen sich die Menschen nicht erst im Tod als Christen vereint. So seltsam, wie uns heute eine Einteilung des Paradieses in katholische und evangelische Zimmer vorkommt, so künstlich erleben viele Gläubige gerade an diesem Ort die Trennung der Christen zu Lebzeiten. Vor diesem Hintergrund gelebter Ökumene will die Stele mehr sein als ein Platz, an dem alle Verstorbenen eines Kirchenjahres namentlich genannt werden. Diese Stele soll auch verstanden werden als Ermutigung, auf dem Weg zur Einheit der Christen voranzuschreiten.

Menschen können aus unterschiedlichem Anlass vor dieser Stele verweilen. Wie vielfältig diese Möglichkeiten sind, soll durch drei verschiedene Ebenen der Begegnung angedeutet werden: als Angehöriger, als Glied dieser Kirchengemeinden, als auswärtiger Besucher des Doms. Jeweils anders, aber doch immer sehr persönlich, können Sie dieser Stele begegnen.

Sie sind Angehöriger und betrauern ganz persönlich einen Menschen, dessen hier namentlich gedacht wird:

  • Was hat mir dieser Mensch geschenkt?
  • Wie bleibt er in meinen Gedanken lebendig?
  • Wo weiß ich ihn geborgen?

Sie gehören zu einer dieser Kirchengemeinden und die Namen der Verstorbenen rufen Erinnerungen an die Menschen wach, die Sie gekannt haben:

  • Was ist mir von diesem Menschen besonders in Erinnerung?
  • Wie wirkt dieser Fluss vom Kommen und Gehen auf mein Bild von Gemeinde?
  • Wann wird mein Name hier stehen?

Sie sind (auswärtiger) Besucher des Doms und lassen sich durch diesen Ort berühren, über den eigenen Lebensweg nachzudenken:

  • Wen betrauere ich?
  • Wo begegnen mir Gedanken zu meiner Endlichkeit?
  • Was bleibt und was kommt?

Wir wünschen uns, dass viele Menschen vor dieser Stele innehalten und angeregt werden, ihre ganz eigenen Gedanken zu Leben und Tod zu finden.