Das Eldorado für Bücherfreunde
23 Helfer kümmern sich um 80.000 Werke
Wetzlar. Samstag, kurz vor 10 Uhr. Die Tische stehen, leere Bananenkisten liegen parat, die Helfer sind startklar. Sie müssen nicht lange warten. Die ersten Autos rollen auf den Vorplatz. Kofferraumdeckel surren leise nach oben, geben den Blick frei auf Stofftaschen oder Kartons voller Bücher, die im Turm der Kreuzkirche auf fünf Etagen eine zweite Chance bekommen. Die Chancen stehen gut, denn jedes Buch, jede CD und DVD kostet nur einen Euro. Kinderbücher die Hälfte. Kein Wunder, wenn mancher, der nur gucken wollte, am Ende eine Tragetasche braucht.
Pfarrer Jörg Süß, seit 36 Jahren im Amt, ist zufrieden. Zufrieden auch im Rückblick auf eine besondere Erfolgsgeschichte. Sie begann vor 20 Jahren. Damals fragten immer wieder Menschen, ob man Bücher gebrauchten könnte. Anfangs nicht, sagt er. Dann kam die Idee auf, einmal im Jahr einen Bücherflohmarkt zu machen. Den ersten vor etwa 27 Jahren mit rund 2000 Büchern. Ein Erfolg. Nur wohin mit all den Kisten? Sie zogen um von der Magdalenenkirche in die Kreuzkirche. Der Keller füllte sich, der Flohmarkt fand zweimal im Jahr statt. „Aber das hieß auch, zweimal im Jahr 200, 300 Kisten raus dem Keller und dann wieder zurück schleppen.“
Da wurde das Erdgeschoss im Turm frei. Es fanden sich Freiwillige, die samstags drei Stunden Bücher verkauften. Der Raum war schnell voll, der Verkauf lief so gut, dass mehr Helfer gebraucht wurden. Heute sind es 23 Männer und Frauen, die sich um aktuell rund 80.000 Bücher kümmern, Ute Seibert ist von Anfang an dabei. Nach und nach wurden alle Räume frei und fünf Etagen entwickelten sich zum Turm der Bücher.
Der Verkaufserlös kommt Projekten zugute, die das Team auswählt. Bislang wurden etwa 360.000 Euro verteilt. Geld für – zum Beispiel – einen Brunnen im Südsudan oder eine Entbindungsstation in Burkina Faso. Aber auch für das Dach der Unteren Stadtkirche oder das Albert-Schweitzer-Kinderdorf in Wetzlar. Aktuell, so der 64-Jährige, geht es um eine frei finanzierte Stelle an der Kreuzkirche. Denn wenn er in Ruhestand geht, werde keine Pfarrstelle mehr freigegeben.
Die Flut der Bände legt die Frage nah: Was passiert mit denen, die keinen Platz im Turm finden? Was verschmutzt, zerfleddert ist, wird entsorgt, ebenso Nazi- und menschenfeindliche Literatur. Alles andere wird zweit vermarktet, darum kümmert sich ein Helfer, etwa über Amazon und Flohmärkte. Was dann noch verschlissen oder unverkäuflich ist, landet leider im Altpapier.
Das gilt nicht für wertvolle Fachbücher, etwa zur Optik. Schätze für Sammler, ja, aber ohne hohen Verkaufswert. Anders als das älteste Buch aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Beides Sonderfälle. Ansonsten herrscht Vielfalt zwischen den trutzigen Mauern: Archäologie und Biografien, Philosophie, Soziologie und Lexika; Fremdsprachen, Ratgeber für Seele, Garten, Küche, Wörterbücher und Krimis, Bücher über Gesundheit und Erziehung, Schopenhauer und Kant, „Hunger Games“ in Englisch, Humoriges, die Bibel, Reiseführer, Kunstbände … Ja, es gibt viel zu entdecken, und es macht viel Spaß, zu stöbern, zu suchen und zu finden. Oder zu finden, ohne zu suchen. Zu guter Letzt zwei Erkenntnisse: Bücherturm macht irgendwie „süchtig“. Und: Wer sich in den oberen Etagen tummelt, sollte wissen, dass ganz oben vier Glocken die Zeit melden.
Text und Fotos: Gert Heiland