Der Abstand ist eingehalten, der Mundschutz parat, der Kollektenkasten aufgestellt und die besten Sonnenplätze an der Gnadenkirche sind reserviert. Per pedes oder Rad aber auch mit dem Auto, weil aus Naunheim oder von der Lahn kommend, treffen sich jeden Sonntag vor 18 Uhr für etwa 45 Minuten zehn bis 30 Menschen und warten auf die Turmbläser: Gerhard Lotz mit Trompete und Pfarrer Christian Silbernagel mit Posaune. In den 50ern/60er Jahren gab es eine Tradition, dass sonntäglich eine Bläserschar durch Wetzlar zog und auch auf dem Turm der Gnadenkirche gespielt hat. Vielleicht erinnert sich heute noch manche daran.

Pfarrer Silbernagel hatte sich schon am 22. März dem Aufruf des Hessische Musikverbands angeschlossen, als Zeichen der Solidarität in schweren Coronazeiten gemeinsam die „Ode an die Freude“ zu spielen. „Ich habe dann noch Choräle angehängt und sonntäglich ein eigenes Programm gemacht“, berichtet Silbernagel. Ab Ostern kam dann auch Gerhard Lotz dazu. Weder Schneeschauer, Gewitter noch Regengüsse konnten die zwei unterbrechen – man ging dann einfach von dem Balkon ins Innere des Turms und die Fan-Gemeinde harrte unter Schirmen aus und applaudierte.

Neben bekannten geistlichen Liedern erfreuten die Zwei auch durch einen Gang durch Spirituals und Gospels, Frühlings- und Abendliedern. „Wie gut, dass man draußen auf Abstand wenigstens mitsingen darf“, freut sich eine junge Frau und die Bekannte fügt hinzu: „Für mich ist der sonntägliche Gang hierher immer wie eine heilige Stunde. Kein Gottesdienst daheim, das Fernsehen und online ersetzen das auch nicht – aber hier ist geistliches Leben“. Manche Menschen kamen persönlich vorbei, um sich zu bedanken, andere schrieben durch die sozialen Medien oder telefonierten ihren Dank durch. Diese Stunde gab ihnen Mut und Hoffnung.

Die Fan-Gemeinde fragte sogar nach einem Kollektenkasten, denn „dieser Sondereinsatz muss doch hier irgendwie belohnt werden“.  Pfarrer Silbernagel: „Der Partnergemeinde in Siena geht es finanziell sehr schlecht in Coronazeiten und da könnte man ja gut solidarisch sein. Die haben erst Ende Mai Gottesdienste und wir sind in einem ständigen Kontakt“.

Nun gibt es ja in Wetzlar wieder Präsenzgottesdienste. Nach dem Bläserkonzert aber schallt`s jedes Mal nach oben: „Doch hoffentlich bis nächsten Sonntag?!“ Und Pfarrer Silbernagel meint schmunzelnd – „Na ja bis Ende Mai oder solange wir zwei noch den Turmaufstieg schaffen“.

 

Bericht und Fotos: Heidi J. Stiewink