Mathematiker und Akademiedirektor begegnen sich: Sind Glaube und Wissenschaft Gegensätze? Wie funktioniert mathematische, wie religiöse Sprache und was sind jeweils ihre Vorzüge? Wie verhalten sich kosmische und von Menschen gestaltete Ordnungen zueinander?

Um diese Fragen ging es bei einem Vortragsabend, den Dr. Frank Vogelsang, Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland und der Gründer des Gießener Mathematikums, Prof. Dr. Albrecht Beutelspacher, in der Wetzlarer Kreuzkirche gemeinsam gestalteten. Die Moderation hatte Pfarrer Jörg Süß übernommen.

Über die Bedeutung der Sprache aus mathematischer und naturwissenschaftlicher Sicht sprach Albrecht Beutelspacher. „Mit der Sprache beschreiben wir die Welt“, erklärte er. Bei Kindern funktioniere das Lernen von Sprache praktisch automatisch. Erfahrung spiele hier eine wichtige Rolle und das Erkennen von Ordnungen wie Ober- und Unterbegriffen. So sei „Hund“ ein Oberbegriff, „Pudel“ ein entsprechender Unterbegriff. „Mit der mathematischen Sprache nehmen wir jedoch auch die Welt wahr, entdecken ihre Schönheiten und Geheimnisse“, hielt Beutelspacher fest. „Denken Sie an einen Kreis. Schauen Sie sich dann in der Welt um und nehmen Sie wahr, was Sie dort alles an kreisförmigen Objekten entdecken können.“ Mit der mathematischen Sprache eröffneten sich zudem auch neue Welten. So gehöre es zu den Grunderfahrungen, dass Zahlen kein Ende haben. Empirisch gebe es keine Unendlichkeit. Doch mit Hilfe der mathematischen Sprache sei es möglich, Objekte zu beschreiben, die es real nicht gibt: „Wir erkunden etwas, das viel größer ist als wir selbst“, sagte der Mathematiker, der gleichzeitig im Kirchenvorstand seiner Gemeinde und in der Dekanatssynode Gießener Land aktiv ist. Der Glaube und Gott seien keine „Lückenfüller“ machte Beutelspacher im anschließenden Gespräch deutlich. Es gebe Menschen, die sagen, dass hinter dem, was sie sehen und erkennen, Gott steht.

„Am Anfang steht das Staunen“, nahm Frank Vogelsang den Faden vor den rund 100 interessierten Besuchern auf. Ordnungen wie beispielsweise die Jahreszeiten oder die Beobachtungen am Sternenhimmel hätten Menschen schon immer fasziniert, sagte der Theologe und Ingenieur. Das Staunen betreffe die in Naturgesetzen geordnete Welt ebenso wie die Tatsache, dass die Mathematik Vorgaben mache, die real nicht existierten (- kein Teller ist wirklich rund) und dass es mit den Regeln der Mathematik möglich sei, die Welt zu beschreiben. Abgesehen von der Mathematik mit ihrer formalisierten, durch Definitionen bestimmte Sprache hätten Menschen jedoch eigene, weniger exakte, Ordnungen entwickelt. So seien Erzählungen eine spezifische Art, Ordnungen herzustellen. Das eigene Leben und die eigene Beziehung zu Gott könnten nur auf diese Weise erschlossen werden. Auch Gefühle, menschliche Beziehungen und die Sinnfrage könnten sich aus strengen Ordnungen nicht erschließen. „Religiöse Erzählungen sind eine starke, vielschichtige und tiefgehende Antwort auf die Sinnfrage.“ Dass die Wirklichkeit nicht nur mit objektivierbaren Methoden beschrieben werden kann, fügte Vogelsang als Aspekt hinzu: „Wir sind nämlich nicht nur Beobachter, sondern als leibliche Wesen ein Teil der Welt.“

Wie wunderbar diese Welt gestaltet sein kann, lässt sich unter anderem auch im „Garten der Sinne“ vor der Kreuzkirche entdecken. Hier sollen zudem bald sechs Sandsteinkugeln installiert werden, wie Pfarrer Jörg Süß zu Beginn des Abends ausführte. Die entsprechenden Erklärungstafeln sind bereits aufgebaut.

Dass das ganze Universum von nur sechs Zahlen, beziehungsweise Konstanten, bestimmt wird, die zur Zeit des Urknalls festgelegt wurden und sich seitdem nicht verändert haben, ist die These des britischen Astrophysikers Martin J. Rees. Bei diesen „Zahlen“ geht es um die Stärke der Kernkraft, das Verhältnis der Stärken der Gravitations- und elektromagnetischen Kräfte, die kosmologische Konstante, die die Beschleunigung der Ausdehnung des Weltalls beschreibt, den Dichteparameter des Universums, das Verhältnis von Materie und Antimaterie und die Anzahl der räumlichen Dimensionen. Die Konstanten sind sehr präzise, das Konzept ihrer Feinabstimmung muss man sich wie Regler an einem kosmischen Bedienfeld vorstellen. Die genaue Einstellung erst ermöglicht die Existenz des Universums in seiner aktuellen Form und des menschlichen Lebens, so die Überzeugung von Rees. Welchen Bauplan hat das Universum, welchen Platz hat der Mensch darin? Diese Fragen ergeben sich aus den Forschungen des Astrophysikers. Dargelegt hat Martin Rees sein Verständnis des Universums in seiner Publikation „Just Six Numbers“ („Nur sechs Zahlen“).

Zu den „six numbers“ von Rees kommt im Garten der Sinne noch eine siebte hinzu. Eingraviert ist auf dieser Sandsteinkugel der erste Vers der Bibel, aus der Schöpfungsgeschichte: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.“ (1. Mose 1,1)

Dr. Frank Vogelsang

Dass Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften in einen Dialog kommen, ist das Anliegen von Dr. Frank Vogelsang. Dabei liegt sein Interesse insbesondere auf dem Bereich Wissenschaft und Ethik. Zudem beschäftigt er sich mit Fragen der Medizin- und Technikentwicklung. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit ist der tiefgreifende kulturelle und gesellschaftliche Wandel in der Spätmoderne.

Vogelsang hat Elektrotechnik und evangelische Theologie studiert. Es folgte in den 90er Jahren ein Forschungsprojekt zum Thema „Ingenieurethik“, über das er auch promovierte. Forschungspolitische Fragen beschäftigten Vogelsang ab 1997, als er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bundestagsabgeordneten Edelgard Bulmann (SPD) und als Geschäftsführer des Wissenschaftsforums beim Parteivorstand der SPD im Willy-Brandt-Haus in Berlin tätig war.

Frank Vogelsang wirkt seit 2002 an der Akademie, erst als Studienleiter, seit 2015 als Akademiedirektor. Darüber hinaus ist er Leiter der Stabsstelle „Gesellschaftliche Verantwortung im Landeskirchenamt der rheinischen Kirche.

 

 Prof. Dr. Albrecht Beutelspacher

Die Mathematik auch Nichtmathematikern anschaulich und verständlich nahezubringen, darum geht es Prof. Dr. Albrecht Beuteslpacher. Der Gründer und Leiter des Gießener Mathematikums lässt unter dem Motto “Mathematik zum Anfassen“ Menschen aller Generationen die Mathematik in seinem Museum auf spielerische Weise erleben.

Albrecht Beutelspacher schreibt populäre Bücher, verfasst eine regelmäßige Kolumne in „Bild der Wissenschaft“ und gestaltete bei BR-alpha die 25-teilige TV-Serie „Mathematik zum Anfassen“. Mit seinen Vorträgen, Publikationen und Büchern hat er sich einem breiten Publikum bekanntgemacht.

Der 74-Jährige war von 1988 bis 2018 Professor für Geometrie und Diskrete Mathematik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Mathematik mit den Nebenfächern Physik und Philosophie hat Beutelspacher in seinem Geburtsort Tübingen studiert, war unter anderem wissenschaftlicher Mitarbeiter und hatte eine Professur in Mainz inne bevor er zwei Jahre lang in der Forschungsabteilung der Siemens AG tätig war.

Weitere Informationen zum Thema gibt es hier: www.theologie-naturwissenschaften.de

bkl

Bild 1: Auch um die „Six Numbers“, die nach Martin Rees das Universum bestimmen, ging es beim Vortragsabend mit Albrecht Beutelspacher (l.) und Frank Vogelsang (Mitte), moderiert von Jörg Süß (r.).

Bild 2: Rund 100 Interessierte waren zu einem Abend über Glaube und Wissenschaft unter Moderation von Pfarrer Jörg Süß in die Wetzlarer Kreuzkirche gekommen.

Bild 3: Prof. Albrecht Beutelspacher nahm die mathematische Sprache in den Blick.

Bild 4: Über das Staunen und die Grenzen strenger Ordnungen sprach Dr. Frank Vogelsang.

Bild 5: Die Erläuterungstafeln zur Installation der „Six Numbers“ sind im Garten der Sinne bereits aufgestellt.